Ratsch am Kachelofen im Hartmannhaus am 26.11.24 mit Hans Schweiger (Jahrgang 1938) über sein Elternhaus und über seine Kindheit im Riedle 

Die Stube des Hartmannhauses bot einen perfekten Rahmen für einen Ratsch am Kachelofen, den unser Hans Schweiger vom Heimatverein gestaltete. Zahlreiche Zuhörer, von denen mehrere aus der alten „Nachbarschaft“ in der Hohenwartstraße stammten, ließen sich von Hans in die Vergangenheit und zurück in die Kindheit und Jugend in der Kriegs- und Nachkriegszeit versetzen. Dank seiner Erzählkunst, seiner mitgebrachten Fotos und Erinnerungsstücke sowie dank der Erzählbeiträge aus dem Kreis der Zuhörer wurden viele Erinnerungen wach und Erfahrungen ausgetauscht. Für alle die nicht dabei sein konnten, hier seine Riedlegeschichten zum Nachlesen:

Das Haus in der Hohenwartstraße 16, Hans‘ Elternhaus, wurde im Dezember 2023 abgerissen. Es war sehr baufällig gewesen und hatte große Risse. Seit 1980 die Kanalisation neu gebaut worden war, hatten sich diese Risse gebildet.

1824 war der Vorgängerbau des Hauses beim Riedlebrand abgebrannt. Wie die Familie Schweiger später feststellte, wurde das Haus ohne Fundamente wieder aufgebaut. Die Brandtrümmer wurden einplaniert und sind im nachträglich eingebauten Keller des Hauses als Brandschicht sichtbar gewesen. Hans vermutet, dass die ersten Häuser im Riedle um 1650 erbaut wurden. Das Berkmillerhaus (der Vorgängerbau des heutigen Stadtmuseums) war das erste und wurde 1645 erbaut.

Hans‘ Vater „erbte“ das Haus von den Geschwistern Schropp. Zunächst renovierte er es zusammen mit seiner jungen Frau zwei Jahre lang gründlich (1939-40). Unter anderem musste er eine Feuermauer zum landwirtschaftlichen Hausteil einziehen. Beim Abbruch entdeckte Hans, dass daran die Jahreszahl 1940 aufgetragen war. Hans‘ Vater baute nach und nach auch einen Keller unter das Haus. Dafür stach er im Keller einfach den Boden als Wasen ab, die im Hof aufgebockt und getrocknet wurden und danach im heimischen Ofen verheizt. „Wir waren ganz schön nachhaltig“, sagt der Hans.

Etwa 1947/48 begannen seine Eltern eine Landwirtschaft. Hans erinnert sich noch gut, wie die ersten beiden Kühe auf den Hof kamen: Hans, damals 7-8 Jahre alt, holte sie mit seinem Vater aus Rieden bei Füssen, jetzt am Forggensee. Die beiden fuhren mit dem Zug nach Füssen und gingen zu Fuß nach Rieden. Mit den beiden Kühen liefen sie dann zurück nach Markt Oberdorf. Es war ein sehr heißer Tag und der Marsch eine Tortur für Mensch und Tier. „Wir haben mehrere Pausen gemacht und an jedem Dorfbrunnen, den wir fanden, haben wir und die Kühe getrunken“. Später wurde die Kuhherde größer, aber mehr als 12 Tiere hatten nie Platz im Stall. Dazu bewirtschaftete sein Vater, eigentlich ein gelernter Maurer, 5 ha Grund. Ihm gehörte ein großes Feld im Hart, auf dem Korn (Weizen und Roggen) und Kartoffeln angebaut wurden.

„Von Kinderarbeit sprach damals niemand. Alle Bauernkinder mussten in der Landwirtschaft helfen“, erzählte Hans. Nach der Schule fand er immer einen Zettel am Küchentisch, wohin er sich als Helfer einzufinden hatte. Wenn er Glück hatte, stand noch warmes Essen im Rohr. „Im Herbst machte uns das Dreschen viel Arbeit. In der Tenne standen unsere Dreschmaschine und eine Art Windmühle, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Letztere mussten natürlich wir Kinder drehen. Das Getreide fuhren wir dann in Säcken mit einem Mollenfuhrwerk nach Altdorf in die Mühle und erhielten dafür Säcke voller Mehl. Diese wiederum gaben wir beim Bäcker Altenried (heute: Druckmiller) ab, und durften dann dort solange Brot und Semmeln holen, bis die Mehlmenge aufgebraucht war. Das war auch eine sehr nachhaltige Art der Lebensmittelerzeugung.“

Einwurf aus der Reihe der Zuhörer: Das war auch in der Käsküche so. Man gab die Milch ab und konnte sich dann im Gegenwert Butter und Käse holen.

19 Wetten gab es im Riedle. Eine Wette, das war ein trichterförmiges Loch, in dem Wasser stand. Die meisten waren nach dem Riedlebrand zur Löschwasserversorgung angelegt worden. Eine davon befand sich unmittelbar vor Hans‘ Elternhaus. Sie wurde aus einer Quelle gespeist und enthielt Wasser von sehr guter Qualität. Wenn die Mutter in der Küche besonders gutes Wasser brauchte, z.B. für Saft, Limonade oder Kaffee für Gäste, schickte sie den Hans mit einer Kanne hinunter, um Wasser zu schöpfen. Das war manchmal ganz schön kalt und rutschig, erinnert er sich.

Mit den Zuhörern entspann sich ein Gespräch über die alten Hausnamen im Markt Oberdorf. Das Schweigerhaus, Hohenwartstraße 16, hieß „beim Wetteschäffler“, wusste Hans. Das Anwesen Hohenwartstraße 19 hieß „beim Miehleschäffler“, ergänzte eine Zuhörerin. Gretl Steinbach, geborene Baer, sagte, Ihr Elternhaus, Füssener Str. 5, habe den Hausnamen „bei der Wette“ gehabt.

Ende 1940 starb der damals bereits zurückgetretene britische Premierminister Chamberlain. Der Rundfunk berichtete darüber und die Nazipropaganda stellte den Verstorbenen als Unhold und sehr schlechten Menschen dar. Hans, damals noch ein kleiner Steppke, nahm sich das sehr zu Herzen. Für ihn war klar, dass da ein großer Schurke oben in der Leichenhalle des Markt Oberdorfer Friedhofs lag – wo sonst hätte man einen Toten hinbringen sollen? Kurzentschlossen holte er einen Hammer und eine Zange aus der Werkstatt seines Vaters und schnappte sich das Nachbarmädle Mariele Kiderle (heute Maria Wonschik, Hohenwartstraße 17, Hausname „beim Weißgerber“). Zielstrebig machten sich die beiden auf den Weg zum Friedhof. „Unterwegs hielt uns Gott sei Dank eine Nachbarin auf, die sich über uns wunderte“, erzählte Hans. „Ich erklärte ihr entrüstet, dass wir dem toten Chamberlain da oben in unserem Leichenhaus eine auf den Kopf hauen wollen, weil er so ein böser Mensch war!“ Da kann man sehen, was Propaganda anrichten kann. Sie waren noch Kinder und der kleine Hans hatte alles geglaubt, was er im Radio gehört hatte.

1944 begann für Hans der Ernst des Lebens und er wurde in der Schule eingeschrieben. Die Bubenschule war aber ebenso wie die Turnhalle ein Kriegslazarett, weshalb er im Gasthaus Mühlegg (heute: Dubrovnik) unterrichtet wurde. Sein Klassenzimmer war der Gastraum der Wirtschaft. Weil die Lehrer alle im Krieg waren übernahm eine „ungelernte“ Berlinerin den Unterricht. Im Gastraum hinter der Theke stand ein „Heuerbierfass“ (Heuerbier war ein Bier mit einem geringen Alkoholgehalt, das zur Zeit der Heuernte gebraut wurde, wenn das Wetter oft sehr heiß war.) Der Mühlegg Hans, der ebenfalls dort die Schulbank drückte, wusste das. So probierten die beiden Hanse schon morgens vor der Schule ein bisschen, wie das Bier schmeckte.

Im Krieg waren einige Wochen lang deutsche Soldaten bei der Familie Schweiger einquartiert. Kurz vor Kriegsende, als schon die Amerikaner erwartet wurden, übernachteten deutsche Soldaten in einem Bus beim Schweigerhaus. Die Kinder bekamen von ihnen Schoka-kola-Schokolade geschenkt. Am nächsten Morgen war der Bus weg, aber rund 20 volle Maggiflaschen standen auf der Misthaufenmauer des Nachbarn. Natürlich wurden sie eingesammelt und in der Nachbarschaft verteilt. Vierzehn Tage später waren die Amerikaner da und verteilten auch Schoka-kola-Schokolade.

Die Schokolade gibt’s immer noch. Hans hatte für seine Zuhörer Probestückchen dabei.

Aus den Reihen der Zuhörer ergänzte Monika Schubert, dass ihre Oma bei Kriegsende das Sailer geführt habe. Auch dort waren Soldaten untergebracht. Abends, wenn die Frauen strickten, waren sie sehr willkommen zum Wolle abwickeln. Das Kommando dazu war „do you?“ und sie halfen bereitwillig mit.

Ein anderer Zuhörer ergänzte, dass alle Häuser mit Bad in Marktoberdorf von den Amerikanern besetzt wurden. 

Bei Luftalarm hatte sich das halbe Riedle im Keller des Malers Baer an der Füssener Straße versammelt. Der hatte nämlich als einziger einen betonierten Keller. Auch als die Amerikaner kamen, saßen alle dort im Keller. Hans, der zu Kriegsende 7 Jahre alt war, hatte besonderes große Angst vor den schwarzen Soldaten. Er hatte eine Witz-Zeichnung aus einer Zeitung vor Augen, auf der ein Weißer in einem großen Kessel saß. Drumherum tanzten die Schwarzen, die ihn kochen und verspeisen wollten. Schwarze, das waren für ihn demnach gefährliche Menschenfresser. Schließlich kam die Nachricht, dass die amerikanischen Panzer schon wieder über die Füssener Straße aus Oberdorf hinausführen. Da verließ die Familie den Keller, die weiße Fahne wurde gehisst, und Hans durfte aus dem Küchenfenster der Baer-Wohnung auf den Panzerzug schauen. Auf einmal ging eine der Panzerluken auf und ein schwarzer Kopf kam heraus. „Ich bin ganz furchtbar erschrocken“, sagte er, aber seine Eltern hätten ihn aufgeklärt, dass das ganz normale Menschen seien. Als die schwarzen Soldaten im Schloss waren, traute sich deshalb eine Bubengruppe, zu der auch Hans gehörte, bis in den Schlosshof. Sie trafen dort auf sehr nette Soldaten, die mit ihnen redeten, wenn sie auch nichts verstanden. Die schwarzen Soldaten waren sogar besonders kinderlieb. Schließlich nahm sie einer mit und zeigte ihnen ihren Schlafraum. Der war im ersten Stock des Schlosses auf der Südseite, sozusagen in den fürstbischöflichen Repräsentationsräumen. An der Decke schöner Stuck, im Raum ein Feldbett am anderen. In einer Ecke lag ein dunkler, feuchter Haufen, der seltsam roch. Hans erzählte daheim davon, da riet ihm seine Mutter, beim nächsten Besuch eine Milchkanne mitzunehmen und ein bisschen davon mitzubringen. Das tat er und zu Hause wurde sein Fund begutachtet: Es war Schwarztee, bereits einmal aufgegossen, und dann von den Soldaten auf diese unübliche Weise entsorgt. Schwarztee, das hatte es im Markt Oberdorf schon jahrelang nicht mehr gegeben. Das nächste Mal nahmen alle Buben ihre Milchkannen mit, sie fragten, ob sie den Tee haben dürften und füllten ihre Kannen damit. „Ich kann mich noch gut erinnern, dass bei uns auf der Holzbeig am Haus lange Bretter lagen, auf denen tagelang unser Tee trocknete. Danach verteilten wir ihn in der Nachbarschaft und alle freuten sich über den guten Tee.“

Einwurf von Gretl Steinbach aus den Reihen der Zuhörer: „Im Sailerkeller war die Küche für die amerikanischen Soldaten. Die Küchenabfälle wurden jeden Tag entsorgt. Meine Mutter durfte sich davon für sich und uns vier noch kleinen Kinder etwas holen. So aßen wir unsere ersten Pfannkuchen, die Erwachsenen erfreuten sich an Teebeuteln mit Schwarztee.“

Für die Schulkinder, nun wieder in der Buben- bzw. der Mädchenschule, gab es eine Schulspeisung, welche die USA spendierten und deutsche Frauen ausgaben. Für die Bubenschule war die Ausgabestelle in der Gemeindehalle bzw. im Theater. Auf dem Speiseplan stand zuerst Kakao und eine Semmel, später gab es eine Suppe oder einen Brei und Süßes wie Schokolade. So machten die Markt Oberdorfer Schulkinder Bekanntschaft mit

·        Cadbury, das war eine amerikanische Milchschokolade

·        4 Ripple SZ-Schokolade

·        lila Haferbrei

·        Nudelbrei

Jedes Kind musste ein Blechgefäß und einen Löffel zur Schule bzw. zur Ausgabestelle mitbringen. Hans hatte sein Essgeschirr im Hartmannhaus als Anschauungsmaterial dabei. Er schätzt, dass es die amerikanische Schulspeisung bis 1950-52 gab.

Als die Amerikaner aus dem Schloss abgezogen waren, wurden dort Heimatvertriebene und Flüchtlinge untergebracht. Alle Räume waren eng belegt. Zug um Zug wurden sie weiter in Markt Oberdorfer Haushalte verteilt, das Wohnungsamt requirierte dafür Zimmer. So kam die Heimatvertriebene Lina Wagner zu Familie Schweiger und wohnte bis zu ihrem Lebensende dort. Die Vertriebenen haben sich schnell integriert, urteilte Hans. Er erinnerte sich sogar an die Hochzeit eines Paares Bittner im Schweigerhaus, welches gar nicht da wohnte, aber dort feiern durfte.

Nach dem Umsturz nutzte man den ersten Stock im Nordflügel des Schlosses als Gefängnis. Wenn die Gefangenen die Kinder draußen sahen, ließen sie an einer Schnur eine leere Blechdose herunter. Die Kinder suchten für sie Zigarettenkippen, von denen mehr als genug herumlagen. Dann zogen die Gefangenen den Behälter nach oben. Das war natürlich streng verboten, wurde aber möglicherweise geduldet.

Als Kind genoss Hans die große Freiheit, einen riesigen Spielplatz von der Buchel bis zum Schlossberg zur Verfügung zu haben. Treffpunkt auf der Buchel, damals nur mit jungen Bäumchen bewachsen, war die Holzhütte, die man nach den Andreas-Hofer-Freilichtspielen (1891) dorthin versetzt hatte. Der Schlossberg war deshalb interessant, weil die Buben dort nach der alten Wasserleitung suchten, mit welcher zu Clemens Wenzeslaus‘ Zeiten Wasser zum Schloss hinaufgeleitet wurde. Nach langer vergeblicher Suche landeten sie einen Zufallstreffer: Einer von ihnen brach ein, und sie standen in dem gemauerten Wasserleitungsgang. Mit Kerzenhalter und Kerze kamen sie wieder und erkundeten den Gang bis zur ersten Zisterne, die – wie Hans heute weiß – 12 m tief ist. Einige Querbalken waren in unterschiedlichen Höhen eingelassen. Einer davon rettete einem der Buben das Leben: Heinz Zeisbrich, der Sohn des Schlosshausmeisters, fiel in den Schacht, blieb zum Glück auf einem der Querbalken liegen und verletzte sich nur leicht. Er wurde heraufgeholt und gerettet, aber von da an war der Gang versperrt und die Buben konnten nicht mehr hinein.

Hans erinnerte sich auch an einen Geißbockverein im Riedle. Der hatte nur vier Mitglieder und einer davon war sein Vater. Ein – leider sehr unscharfes – Foto zeigte die vier Buben mit ihrem Maskottchen, einem lebendigen Geißbock. Welchen Zweck der Verein erfüllte, wusste Hans nicht.

Haben Ihnen die Geschichten aus dem Riedle gefallen? Hans Schweiger hat bereits 2016 einen Hoigarte über das Riedle gehalten, in dem er noch ausführlicher über sein Viertel erzählt hat. Hans Kohl von den Film- und Fotofreunden hat ihn aufgezeichnet. Die DVD davon ist beim Heimatverein erhältlich (10,- €).

Text: Kornelia Hieber

Fotos: Kornelia Hieber / Hans Schweiger

 

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